“
Selig ist, wer sich nicht nach dem Rat der Übeltäter richtet, und nicht unterwegs ist auf dem Weg der Sünder, sondern Lust hat auf die Weisung des Herrn, und über seine Weisung nachsinnt am Tag und bei Nacht. Der ist wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist.
Psalm 1, 1-2
„
Es ist eine alte Weisheit aus den Psalmen, die aber nichts an Aktualität verloren hat: Ein lebendiges und frisches Christentum lebt davon, dass es die Verbindung zu seiner Quelle bewahrt. Diese Quelle ist die „Thora des Herrn“ so heißt es in diesem Psalmvers, der so etwas wie die Überschrift ist für das ganze Buch der Psalmen. Thora, das bedeutet nicht nur „Gesetz“, wie wir oft denken, sondern „Weisung“. Es ist das, was Gott richtungsweisend in unser Leben hineinspricht. Ja, dazu gehören auch seine Gebote für ein gutes Leben. Aber noch so viel mehr: Seine Verheißungen für eine Zukunft nach seinen Maßstäben. Erzählungen und Erinnerungen an das, was er für uns getan hat. Gesammelte Lebensweisheit von Königen und Dichtern. Briefe, Lieder, Gedichte und Warnungen. Ein reichhaltiger Schatz, von dem Jesus einmal sagt: „Wer kundig ist in der Schrift und ein Jünger des Reiches Gottes, der ist wie ein guter Familienvater, der aus dieser Schatzkiste Altbewährtes und überraschend Neues hervorholt“ (Matthäus 13,52).
Es liegt eine geistliche Kraft darin, wenn unser Leben und unser Glaube getränkt ist von Bibel. Natürlich: Gottes Weisung begegnet uns auch auf anderen Wegen. Aber der Hauptstrom der „Thora“ Gottes war schon immer die Schrift. Und nur wenn wir tief verwurzelt bleiben in diesem Strom, dann können wir auch andere Weisungen Gottes als solche erkennen und verstehen. Das persönliche Forschen in der Schrift und das intensive Nachsinnen über ihre Bedeutung gehört deshalb zu den wichtigen geistlichen Übungen, die uns als Christen lebensfähig und alltagstauglich machen.
Viele Christen sind heute skeptisch geworden gegenüber dem Bibellesen. Oft sehen sie einen Widerspruch zwischen Lebensnähe und Bibelnähe, so als ob das eine jeweils das andere ausschließt. Und dann wollen sie natürlich lieber nahe am Leben sein als nahe an der Bibel. Aber das Bild vom Baum zeigt: Das ist ein falscher Gegensatz. Wurzeln und Früchte scheinen weit auseinander zu liegen, aber sie sind untrennbar: Ein Christentum, das sich nur noch auf sichtbare Früchte konzentriert, ohne gleichzeitig die verborgenen Wurzeln zu stärken, erscheint vielleicht kurzfristig sü. und saftig, trocknet aber spätestens nach einer Generation aus. Andererseits aber wird ein Christentum, das nur noch Wasser aufsaugt, ohne Früchte zu bringen, innerlich verfaulen.
Manchen Christen wurde das Bibellesen verleidet, weil es ihnen als Kind aufgezwungen wurde wie das Geige üben oder das gesunde Essen. Nicht der Inhalt, sondern die Länge und Häufigkeit des Bibellesens schien damals das zu sein, worauf es Gott ankommt. Bibellesen als Gradmesser für gutes Christsein: Da kann einem schon mal die „Lust an der Thora“ vergehen. Und als Erwachsener betont man dann gern die Freiheit, die lästige Pflichtübung nicht mehr tun zu müssen. Aber auch hier hilft das Bild von Wurzel und Frucht. Es geht nicht um geistlichen Leistungssport. Sondern darum, dass wir verbunden bleiben mit dem, was uns nährt. Was uns Halt und Richtung gibt. Was unseren Zweigen Widerstandskraft gibt, in den wechselnden Winden der Zeit tragfähig zu bleiben. Denn nur so werden wir auch in der Lage bleiben, Früchte zu bringen. Und nur dann werden die Früchte auch „gute Früchte“ sein (Matthäus 7,17-18).
Dr. Guido Baltes, Marburg, Dozent am MBS Bibelseminar, Mitglied im Arbeitskreis Gebet der Evangelischen Allianz Deutschlands.